Die Ereignisse rund um den Ukrainekrieg bringen den politischen Westen immer mehr in der Defensive. Je klarer sich die Verhältnisse an der Front entwickeln, um so undeutlicher werden die Vorgänge, die sich im Hintergrund abzuspielen scheinen. Die NATO-Staaten versuchen, die Initiative des Handelns wieder zu erringen, verstricken sich dabei aber immer mehr.
Ein Kommentar von Rüdiger Rauls.
Aufbruch
Die Ereignisse seit der gescheiterten ukrainischen Offensive im vergangenen Jahr spielen Russland in die Hände. Auch die Münchener Sicherheitskonferenz hatte keine neuen Anstöße geben können. Vor diesem Hintergrund fand am 25. Februar in Paris eine eilends einberufene Zusammenkunft zur Unterstützung der Ukraine statt. Sie sollte der „Schwarzmalerei“ entgegenwirken und einen „Schulterschluss“ gegen Putin bewirken.
Am Ende der Konferenz wartete Gastgeber Macron mit einem Paukenschlag auf. Er deutete an, dass die Entsendung von NATO-Truppen „nicht von vorneherein auszuschließen“(1) sei. Einig war man sich, dass
"die Niederlage Russlands für die Sicherheit und Stabilität Europas unerlässlich ist"(2).
Ob Macron damit Weitergehendes bezweckte, wurde nicht deutlich.
Dass es sich dabei nicht um seine persönliche Einschätzung handelte, sondern um ein gemeinsames Anliegen, wurde in der Aussage offensichtlich: „Er werde nicht die Namen der Länder nennen, die dies thematisiert hatten“(3). Bereits in der Einladung zu dem Treffen war angekündigt worden, „über neue Ansätze zur Ukrainehilfe nachzudenken“(4).
Man sucht offensichtlich nach Wegen, wieder die Initiative zugunsten des politischen Westens zurück gewinnen zu können. Man will Putin zu verstehen geben, dass da noch einige Pfeile im Köcher der NATO sind. Russland soll nicht glauben, dass die NATO sich nicht auch den Einsatz von Bodentruppen zutraut und diese Möglichkeit für sich ausschließt. Vermutlich wollte Macron mit dieser Ankündigung das Kräfteverhältnis wieder als offen darstellen, das sich in den letzten Monaten so sehr zugunsten Russlands verschoben hatte.
Putin soll sich nicht in der Sicherheit wiegen, dass die Reaktionen des Westens leicht auszurechnen seien und dass die NATO nicht auch bereit wäre, eigene Truppen und weitreichende Waffen einzusetzen. Man scheue sich auch nicht, den Krieg nach Russland zu tragen, notfalls vielleicht sogar mit Atomwaffen, wie bereits eine weitere frühere Friedenstaube, die SPD-Abgeordnete Katharina Barley, als Möglichkeit ins Gespräch gebracht hatte. Wenn das Tabu eigener Truppen in Frage gestellt wird, von dem man weiß, dass es eine von Russlands roten Linien ist, dann könne als nächster Schritt die Drohung von Atomwaffen nicht ausgeschlossen werden. Die Botschaft an Russland scheint zu sein, dass der Westen für sich keine mögliche Reaktion abschreibe.
Doch was aussieht wie ein Ausdruck von Stärke, wirkt eher verzweifelt. Glauben Macron und der Westen allen Ernstes, dass Russland sich von solchen Aussagen beeindrucken oder gar ins Bockshorn jagen lässt? Jedenfalls hat diese Ankündigung das eigene Lager mehr aufgeschreckt und dort Verwirrung gestiftet als in Russland selbst. Vermutlich haben sich die Russen schon längst auf alle möglichen Szenarien eingerichtet, denn auch ihnen ist nicht entgangen, dass der politische Westen Maßnahmen ergreift, die vor langer Zeit noch abgelehnt wurden, wenn deutlich wird, dass mit den bisher angewendeten Mitteln Russland nicht zu besiegen ist.
Irrwege
Wie ernst es den Machthabern im Westen mit dem Einsatz von NATO-Truppen wirklich ist, wird zu beobachten bleiben. Es gilt kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht im Wirrwarr der eigenen Gedanken und Phantasien selbst in Panik zu versetzen. Denn der politische Westen ist nicht so geschlossen, wie er wirken will.
Die Interessen in diesem Gebilde sind mitunter sehr verschieden, wie die Reaktionen auf Macrons Ankündigung zeigen. Nicht nur politische Kräfte der französischen Gesellschaft liefen dagegen Sturm. Auch die meisten Führer der westlichen Staaten erklärten umgehend, keine eigenen Soldaten in die Ukraine schicken zu wollen. Selbst die größten Kriegstreiber Polen und Großbritannien, sogar der NATO-Generalsekretär winkten ab. Macron selbst sah sich aufgrund der Entrüstung gezwungen zurück zu rudern und das Engagement mit eigenem Militär klein zu reden.
All das soll natürlich keine Entwarnung sein. Der politische Westen will diesen Krieg gegen Russland nicht verlieren, aber auch nicht das eigene Leben, nicht die eigene staatliche Existenz. Wenn Macron die NATO-Staaten im Kampf gegen Russland hatte zusammenschweißen wollen, so ist ihm dieses Vorhaben gründlich misslungen. Die Entsendung eigener Truppen scheint doch auf ganz erheblichen Widerstand zu stoßen und fürs erste wohl nicht umsetzbar zu sein. Ganz zu schweigen von den Drohungen Russlands.
Macrons erhoffter Befreiungsschlag erwies sich als Fehlschlag. Er hat Moskau mehr genützt als dem eigenen Lager, denn er legte westliche Überlegungen und mögliche Pläne offen, aber auch die Widerstände im Innern. Die beabsichtigte
„strategische Ambiguität hat Macron nicht hergestellt, eher strategische Klarheit — über die roten Linien im westlichen Bündnis“(5).
Man wird sicherlich nicht aufgeben, aber man wird sich andere Wege zum Erfolg suchen müssen.
Umwege
Einer dieser Wege hätte der Einsatz des deutschen Marschflugkörpers Taurus sein können, den die Ukraine schon seit längerem haben will, um die Versorgung der russischen Truppen aus dem rückwärtigen Raum zu behindern. Kaum ein Fachmann geht davon aus, dass der Taurus die strategische Wende bringen wird. Dennoch wird sein Einsatz sowohl im Ausland als auch in Inland lautstark gefordert.
Bundeskanzler Scholz hat dessen Lieferung bisher abgelehnt, da das Gerät eine Eskalation des Krieges bedeuten würde. Er befürchtet nicht zu unrecht, dass Deutschland damit in den Augen Russlands zur offensichtlichen Kriegspartei werde. Auch der deutsche Bundestag hatte Beschlüssen zur Lieferung des Taurus an die Ukraine nicht zugestimmt, wohl aber weiterreichenden Waffen allgemein, ohne den Taurus ausdrücklich zu erwähnen. Die Tür schien sich einen Spalt weit geöffnet zu haben.
In diese Diskussion um die Lieferung der deutschen Lenkwaffe und die Entsendung von NATO-Soldaten platzte die Veröffentlichung eines Telefon-Mitschnitts, in dem vier hochrangige deutsche Offiziere Pläne zum Taurus-Einsatz gegen Russland diskutierten. Ziel sollte die Krimbrücke sein. Dieser Mitschnitt war von der Herausgeberin von RT, Margarita Simonjan, ins Netz gestellt worden, die ihn aus Geheimdienstkreisen erhalten haben will. Nach den unvermeidlichen Klagen über Russlands hybride Kriegsführung mussten deutsche Behörden die Echtheit des Dokuments bestätigen.
Egal wie weit fortgeschritten und ernsthaft die Pläne der Offiziere waren, die Veröffentlichung und Russlands Drohungen darauf hin stützten die Sichtweise des Bundeskanzlers und schwächten jene der Befürworter. Nach ersten Zweifeln an der Sicherheit der deutschen militärischen Kommunikationswege teilte Verteidigungsminister Pistorius jedoch mit, es sei „
den elektronischen Kriegern Moskaus nicht gelungen, die deutsche Abwehr zu durchbrechen, sondern jemand hatte die Regeln nicht eingehalten“(6).
Das ist insofern verwunderlich, weil dazu ein sehr hoher Aufwand und sehr viel Glück gehört hätte. Denn offensichtlich „nahm der russische Geheimdienstmitarbeiter aber schlicht an der Konferenz teil, was bedeuten muss, dass er sich Zugang zu den Einwahldaten verschafft hat. Ob auf digitalem Wege oder durch den Zugriff auf ein entsperrtes Gerät … im richtigen Moment, ist unklar“(7). Sehr viele Zufälle auf einmal.
Aber Frau Simonjan sprach auch nicht ausdrücklich vom russischen Geheimdienst. Die andere und leichter umzusetzende Möglichkeit besteht darin, dass durch „den amerikanischen Patriot Act autorisierte US-Dienste wie die NSA auf sämtliche Daten der europäischen Tochterunternehmen zugreifen, wenn sie es denn wollen.“(8). Das Konferenzsystem Webex, das von den deutschen Offizieren für die Kommunikation benutzt worden war, gehört zum US-Konzern Cisco und unterliegt damit der Veröffentlichungspflicht gegenüber den US-Behörden.
Möglich wäre also ohne Weiteres eine Indiskretion von amerikanischer Seite. Wobei sich dann natürlich die Frage nach dem Motiv stellt. Denkbar ist, dass Kräften in den USA nicht an einer weiteren Verschärfung des Konflikts gelegen ist. Man will den aussichtslosen und teuren Krieg beenden, um sich auf die Auseinandersetzung mit China zu konzentrieren. Aber das liegt im Bereich der Spekulation wie so vieles, was im Moment an politischen Vorgängen nicht nachvollziehbar ist.
Gleiches gilt auch für den Angriff auf die Krim-Brücke. War die Ausarbeitung des Plans eine Anweisung von oben oder welche Motive hatten die vier Offiziere? Denn klar war ja auch, dass die Herkunft des Angriffs verschleiert werden sollte. Wem gegenüber wollte man diese Intrige vertuschen, die im Ernstfall Deutschland in einen offenen Krieg mit Russland hätte verwickeln können? Wollte man die Russen täuschen oder doch eher Kanzler und Parlament, um vollendete Tatsachen zu schaffen? Wollte man den deutschen Kriegseintritt provozieren? Das bleibt vorerst unklar, steht aber als offene Frage im Raum.
Auswege
Nun, da all diese Versuche fürs erste gescheitert sind, der Einsatz von Taurus und NATO-Truppen, bleibt nichts mehr anderes übrig, als mehr konventionelle Waffen und Munition zu beschaffen. Die europäische Industrie liefert nicht genug und braucht zu lange, um die nötigen Kapazitäten aufzubauen. Was man lange zu vermeiden versuchte, wird nun doch umgesetzt: Waffenkäufe im Ausland. Besonders Frankreich hatte bisher darauf gedrängt, das Geld für Waffen und Munition im eigenen Land beziehungsweise in der EU auszugeben, statt die amerikanische Rüstungsindustrie mit europäischen Aufträgen zu mästen, dem größten Konkurrenten der eigenen Waffenschmieden.
Am 7.3. hatte die Bundesregierung mitgeteilt, dass man sich einer
„tschechischen Initiative anschließen wird, bei der es um den Einkauf der Munition in sogenannten Drittländern außerhalb der Europäischen Union geht. Angestrebt ist die Beschaffung von 800.000 Granaten. Am Dienstag hat sich auch Frankreich der Initiative angeschlossen“(9).
Dieser Gesinnungswandel besonders vonseiten Frankreichs zeigt die Ausweglosigkeit der Lage. Aber nach den Pleiten um den Taurus und eigene Truppen scheinen keine anderen Auswege mehr zur Verfügung zu stehen.
Nun werden wieder kleinere Brötchen gebacken. Macrons Aufbruch scheint fürs erste gescheitert. Die NATO-Staaten konnten sich nicht mit der Entsendung eigener Truppen anfreunden. Der Krieg wird zwar durch die Ankäufe von Kriegsmaterial außerhalb der EU verlängert, aber qualitativ nicht verschärft - vorerst zumindest nicht. Die Möglichkeiten des politischen Westens schränken sich immer mehr ein, die Aussichten auf einen Sieg der Ukraine auch.
Quellen und Anmerkungen
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 28.2.2024: Macrons Bodentruppen
(2) ebenda
(3) FAZ vom 28.2.2024: Scholz schließt die Entsendung von Truppen in die Ukraine aus
(4) FAZ vom 6,3,2024: Munition weltweit kaufen
(5) FAZ vom 7.3.2024 Rhetorische Salven
(6) FAZ vom 6.3.2024: Pistorius in der Vorwärtsverteidigung
(7) FAZ vom 5.3.2024: Der Kreml hört mit
(8) ebenda
(9) FAZ vom 7.3.2024: Berlin schließt sich Prager Munitionsinitiative an
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
+++ Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse+++ Bildquelle: Antonin Albert/ shutterstock
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